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Günter Dürig

Am 22. November 1996 ist der emeritierte ordentliche Professor für Öffentliches Recht Dr. Günter Dürig verstorben. Damit verlor die Eberhard-Karls-Universitüt Tübingen und mit ihr die gesamte Staatsrechtswissenschaft einen ihrer Großen.

Dürig wurde am 25. Januar 1920 in Breslau geboren. Dort ging er auch zur Schule und legte das Abitur ab. Am 1. November 1938 schlug er die Offizierslaufbahn ein; den Weltkrieg mußte er, seit 1944 als Rittmeister, in voller Länge durchleben. Zum Ritterkreuz vorgeschlagen, erfuhr Dürig nach einer schweren Kopfverletzung nie mehr vom Ausgang des Verfahrens. Zu Recht zählte er sich zu der "im NS-Staat verheizten übriggebliebenen Generation". Die Kopfverletzung bedeutete für Dürig einen "Blackout für Monate". An den Wunden litt Dürig zeit seines Lebens.

Von 1946 bis 1949 studierte Dürig an der Universität München Rechtswissenschaft, wo er schon 1949 mit "summa cum laude" bei Geheimrat Professor Dr. Apelt promovierte. Den Referendardienst leistete Dürig im OLG-Bezirk München ab. Von 1950 bis 1953 war er als Assistent am Institut für Politik und Öffentliches Recht der Universität München, zeitweilig daneben als Lehrbeauftragter für Öffentliches Recht an der dortigen Hochschule für politische Wissenschaften tätig. Ende des Sommersemesters 1953 habilitierte Dürig sich für das Fach Allgemeine Staatslehre sowie Staats- und Verwaltungsrecht mit einer Arbeit ueber "Freiheitsrecht und Sozialpflicht im Grundgesetz, dargestellt am Eigentum". Im Wintersemester 1953/54 wurde Dürig mit der Vertretung der durch die Wegberufung von Carlo Schmid in Tübingen vakanten Professur für Öffentliches Recht betraut. Er erledigte diese Aufgabe mit Bravour, so daß die Lehrstuhlvertretung auf Drängen der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät verlängert wurde. Die verständlichen Bemühungen, Dürig in Tübingen zu halten, mündeten nicht nahtlos in eine ordentliche Professur. Vielmehr verzögerte sich die Ernennung Dürigs selbst zum außerplanmäßigen Professor bis zum 1. April 1955, weil gegen ihn wegen einer von ihm im Juni 1954 in Nürnberg gehaltenen Rede unberechtigte Zweifel an seiner Verfassungstreue geäußert worden waren. Dies hatte zu einer Solidarisierungswelle nicht zuletzt unter den Tübinger Studenten geführt. Die Vorgänge sind symptomatisch für den Lebensweg Dürigs: Er nahm niemals auf "political correctness" Rücksicht, überzeugte durch seine fundierte Argumentation, erwarb sich besondere Zuneigung und Rückhalt in der Studentenschaft und erwies sich als Verfassungspatriot im besten Sinn. Das zeigte vor allem sein Referat auf der Tübinger Staatsrechtslehrertagung 1954 zum Thema: "Der deutsche Staat im Jahr 1945 und seither". Dürig verfocht mit Nachdruck die These vom Fortbestand des Deutschen Reichs, wobei er insbesondere auf das gemeinsame Kulturbewußtsein und geschichtlich gewachsene Zusammengehörigkeitsbewußtsein der Deutschen hinwies. Diese Gemeinsamkeiten erodierten leider im Lauf der Entwicklung. Selbst nach der deutschen Einigung treten immer wieder mentale Unterschiede der Bevölkerung in den alten und neuen Bundesländern zu Tage. Nichtsdestoweniger trug Dürig wissenschaftlich mit dazu bei, die Option einer Wiedervereinigung unter der Herrschaft des Grundgesetzes offen zu halten.

Der akademische Durchbruch ließ sich nunmehr trotz aller Widrigkeiten nicht mehr aufhalten. Dem im Dezember 1954 ergangenen Ruf auf einen öffentlich-rechtlichen Lehrstuhl in Würzburg konnten die Universität Tübingen und das Land Baden-Württemberg nur Paroli bieten, indem Dürig der Rang eines persönlichen Ordinariats in Aussicht gestellt wurde. Zu der längst überfälligen Ernennung kam es jedoch erst am 7. Mai 1957, nachdem das Kultusministerium von Baden-Württemberg das in der Freiburger Juristischen Fakultät freigewordene öffentlich-rechtliche Ordinariat in Abweichung von der Berufungsliste mit Professor Konrad Hesse besetzt hatte, um Tübingen den Fortgang Dürigs zu ersparen. Als hilfreich erwies sich auch ein Ruf an die Universitaet Kiel. Der Universitaet Tübingen und dem Land Baden-Württemberg hielt Dürig, am 14. Februar 1957 zum nebenamtlichen Mitglied des Verwaltungsgerichtshofs ernannt, auch künftig die Treue; Rufe nach Bonn (1958), München (1958) und Köln (1965) lehnte er ab.

In Treue erfüllte Dürig ebenfalls die an ihn herangetragenen Aufgaben. 1961 war er Dekan der Juristischen Fakultät, 1961/63 Vorsitzender des Juristischen Fakultätentages, 1964/65 Vorstandsvorsitzender der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 1964 Mitglied der Deutschen Kommission für Kernenergierecht. Alle diese Leistungen mußte Dürig seiner Gesundheit abringen, was ihm zunehmend schwerer fiel und ihn gelegentlich resignieren liess. Beispielhaft sei aus einem Brief zitiert, den Dürig am 10. Juli 1968 an den Dekan der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät richtete: "Ich muß aufgeben, d.h. mich vorzeitig pensionieren lassen. Meine fünfmalige Verwundung - insbesondere meine Gehirnverletzung durch Kopfschuß - haben zur Folge, daß ich kaum eine Vorlesungsstunde am Tag physisch durchhalte und während eines jeden Semesters mehrfach medizinisch ausfalle. Seit vielen Jahren ist jede ärztliche Behandlung erfolglos und sind starke Kopfschmerzen bei mir der Normalzustand." Trotz finanzieller Einbuße lehne er es ab, sich zu Lasten seiner Kollegen formal mitziehen zu lassen. Das ganze sei in seiner Sicht gleichsam "Stalingrad zweiter Teil". Dürig war aber bestrebt, seine wissenschaftliche Tätigkeiten nach Kräften fortzusetzen, und raffte sich auch im Lehrbetrieb wieder auf. Daß die Juristische Fakultät in gleicher Weise versuchte, eine vorzeitige Pensionierung von Dürig möglichst zu vermeiden, bedarf keiner Hervorhebung. Im Winter 1968 beantragte Dürig mit Erfolg bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Finanzierung einer Lehrstuhlvertretung für die Dauer eines Jahres. In den Folgejahren kam er seinen Lehrverpflichtungen, freilich mit verkürztem Studiendeputat, nach. Im Juni 1981 ließ sich Dürig schließlich nicht mehr davon abbringen, die Versetzung in den Ruhestand zu betreiben. Am 18. Februar 1982 hielt er seine letzte Doppelstunde, nachdem er sechzehn Wochen lang eine vierstündige Vorlesung ohne einen einzigen Ausfall durchgehalten hatte. Ende März 1982 trat Dürig in den Ruhestand. Das hinderte ihn nicht daran, an der weiteren Entwicklung des Verfassungsrechts aktiv Anteil zu nehmen. 1982 verlieh ihm der Bundespräsident in Anerkennung seiner Leistungen das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, 1989 wurde ihm das Große Verdienstkreuz mit Stern überreicht. Dürig hielt sich parteipolitisch zurück, verhehlte aber niemals, daß er ein gläubiger und kirchentreuer Katholik war. 1983 wurde ihm von der Diözese Rottenburg-Stuttgart die Martinus-Medaille verliehen.

Die wissenschaftliche Leistung Dürigs läßt sich in einem knappen Nachruf nicht annähernd ausleuchten, geschweige denn angemessen würdigen. Dürig war ein begnadeter Lehrer und Kommentator, was sich bis hinein in die originellen Fundstellen- und Stichwortverzeichnisse der von ihm herausgegebenen Sammlung des Landesrechts von Baden-Württemberg auswirkte. Vor allem aber ist der Name Dürigs untrennbar verbunden mit dem von ihm und seinem Münchner Kollegen Professor Theodor Maunz begründeten Kommentar zum Grundgesetz, der zum Prototyp der modernen Loseblattkommentare geriet. Bereits die erste Lieferung wurde in der Rechtswissenschafts als Sensation empfunden. Die Grundrechtsdogmatik, die Dürig schwerpunktmäßig neben der Kommentierung der Wehrverfassung und Rechtspflege übernommen hatte, knüpfte an das hohe intellektuelle Niveau juristischer Publikationen der Zeit vor der nationalsozialistischen Machtergreifung an und bemühte sich um eine eindeutige ethische Fundierung des Rechts. Die in Art. 1 GG geschützte Menschenwürde und in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete freie Entfaltung der Persönlichkeit baute Dürig zunächst in Aufsätzen und sodann in seinem monographisch gehaltenen Kommentar zu einem Wertesystem aus, das maßgeblich die Interpretation der Grundrechte in der frühen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts beeinflußte. Häufig wurden Dürigs Formulierungen, wie etwa seine berühmte Objektsformel zur inhaltlichen Fixierung der Menschenwürde, schablonenhaft herangezogen und damit zu kleiner Münze umgeprägt. Die Mahnungen vor Fehlentwicklungen verloren dadurch an Schlagkraft, zumal Dürig - bei seinem Schicksal nur zu verständlich - die Risiken von Naturwissenschaft und Technik überschätzte und deren Chancen (etwa die der Gentechnik) zu gering veranschlagte. Wie sehr wir gleichwohl auf derartige Mahnungen angewiesen sind, zeigt die 353 Seiten starke Kommentierung des allgemeinen Gleichheitssgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1), über die Dürig 15 Jahre lang "herumgegrübelt" hatte. Dürig warnte davor, den Gleichheitssatz in ein "Grundrecht auf Neid" zu denaturieren. Das Wesentliche zum gegenwärtig unvermeidbaren Umbau des Sozialstaats ist hier schon gesagt. Dürig hat uns auch nach seinem Tode noch viel zu sagen.

Prof. Dr. Michael Ronellenfitsch, Juristische Fakultät


Juristische Fakultät, 25.07.97, jurfak@jura.uni-tuebingen.de(jurfak@jura.uni-tuebingen.de)